Foto: Reinhard Strüven

Als in der Südstadt noch gewebt wurde – Erinnerungen an die 50er und 60er Jahre

Wer 80 oder gar 90 Jahre alt ist, hat in seinen jungen Jahren noch Zeiten erlebt, die sich von der Gegenwart sehr unterscheiden und uns doch auch wieder nah sind. Daher ist es auch für Menschen, deren Lieblingsfach nicht unbedingt Geschichte war, immer wieder spannend, etwas aus der „alten Zeit“ direkt vor der eigenen Haustür zu erfahren. Die Abordnung aus der „Neuen Samtweberei“ war also sehr interessiert, einmal an einem Erzählcafé im Altenheim St. Josef an der Tannenstraße teilzunehmen, und wurde mit interessanten Geschichten belohnt.

Die heute 91-jährige Frau Liske zum Beispiel arbeitete in den 50er Jahren bei Scheibler und Peltzer in der Flickerei. Zu dieser Zeit wurde in der Samtweberei schon kein Samt mehr gewebt, sondern Wollstoffe und die dafür benutzten Webmaschinen standen in den Shedhallen und auch im Altbau an der Tannenstraße. Weil auch damals trotz sorgfältiger Arbeit immer wieder Webfehler entstanden, blieben die Frauen in der Flickerei nie lange ohne Arbeit. Sie hatten die diffizile Aufgabe, Fehler in den Stoffen per Hand auszubessern. Dafür wurden die markierten Rollen auf große schräge Tische gelegt und von den Flickerinnen langsam abgerollt. Die Fäden für diese Präzisionsarbeit wurden direkt aus den Stoffrollen gezogen, damit die Ausbesserung nachher nicht zu sehen war.

In der Flickerei arbeitete zu dieser Zeit auch Frau Gusfeld, die für das Erzählcafé zu Besuch in die Tannenstraße gekommen ist. Sie radelte jeden Tag von Oppum in die Lewerentzstraße. Nur im Winter benutzte sie die Straßenbahn. Mit der Straßenbahn kam auch Frau Maibaum zu ihrer Arbeit, die in der Spulerei beschäftigt war und in St. Tönis wohnte. Sie fuhr immer mit der Linie 41 bis zum Krefelder Hauptbahnhof. Damals fuhr allerdings noch kein Bus über die Lewerentzstraße, sodass sie das letzte Stück auch bei Wind und Wetter zu Fuß gehen musste.

Man darf sich den Arbeitsalltag der 50er Jahre allerdings nicht nur als ernste Angelegenheit vorstellen. „Bei uns wurde während der Arbeit oft gemeinsam gesungen, vor allem in der Weihnachtszeit“, erinnert sich die ehemalige Flickerei-Mitarbeiterin Frau Liske. Spannender wurde es auch, wenn Scheibler und Peltzer neben den Standardwollstoffen manchmal auch Besonderes produzierte: „Einmal waren die Stoffe, die wir bekamen besonders bunt. Die waren dann für Afrika bestimmt, aber die konnten sich dort bestimmt nur die Reicheren leisten, so toll waren die“, so Frau Gusfeld. Wenn von solchen Stoffen dann mal Reste überblieben, konnten sich die Frauen davon zu Karneval auch mal ein Geisha-Kleid nähen. Den Kontakt, um an solche Reste zu kommen hatte zum Beispiel Frau Liskes Schwester, die im Büro arbeitete und wegen ihrer Frisur „Queen“ genannt wurde. Aber auch der Chef, Herr Scheibler, trug zum guten Betriebsklima bei: „Der hat immer schöne Betriebsausflüge organisiert“, weiß Frau Liske heute noch.

Obwohl es in der Textilproduktion immer schon viele Frauen gab, waren hier natürlich auch Männer beschäftigt, direkt an den Webmaschinen aber auch in der Maschinenwartung, wie der heute 79-jährige Herr Reine, der sich in der Lewerentzstraße zwei Jahre um diese Aufgabe kümmerte. Von der Krefelder Südstadt aus zog es den gelernten Dreher und Maschinenschlosser später in die weite Welt. Er arbeitete am Aufbau von Stahlwerken mit – unter anderem in Indien, Argentinien und Brasilien. „Da habe ich sehr viel Armut gesehen“, erinnert er sich, „und in Brasilien wurde damals schon der Regenwald abgeholzt und die Indianer wurden von ihrem Land verdrängt.“ Manche menschlichen Verhaltensweisen haben sich leider in den letzten 50 Jahren nicht verändert.

In Übersee war Frau Gusfeld nur privat. Sie reiste mit ihrer Familie nach Kanada und Kalifornien, wo sie vor der Küste sogar einmal die Queen Elizabeth II liegen sah. Klimatisch fand sie Krefeld allerdings angenehmer: „Solch eine große Hitze, wie im Sommer in Kalifornien habe ich nie gemocht“, erzählt sie. Wenn Frau Liske und sie heute an ihren alten Arbeitsplatz denken, kommt eine gewisse Wehmut auf: „Ich war vor kurzem mal zu einer Besichtigung im alten Gebäude. Das kam mir doch sehr fremd vor“, erzählt Lisken. „Aber die alten Bilder hatte ich sofort wieder vor Augen – den Pförtner, der die Karten abstempelt, die Fahrradkeller und die Lagerhallen. Die Außenfassaden sind ja noch so schön wie früher und Gott sei Dank erhalten geblieben. Einigen schönen Häusern in der Südstadt weine ich allerdings schon nach.“

(Foto: Reinhard Strüven)

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