Foto: Amanda Bruchmann

Ein Viertel pulsiert

Manche Begegnungen sind deshalb so wertvoll, weil sie nur auf einem glücklichen Zufall beruhen. So ist es mit dem Samtweberviertel und mir. Aus einer eher zufälligen Bekanntschaft hat sich eine Liebesgeschichte entwickelt. Wie das passiert ist? Dafür muss ich kurz ausholen. – Ein Gastbeitrag von Amanda Bruchmann

Seit zwei Jahren studiere ich “Urbane Kultur, Gesellschaft und Raum“ an der Uni Duisburg-Essen. Hinter diesem komplizierten Namen verbirgt sich ein sehr einfaches Motiv. Herauszufinden, wie “Stadt“ eigentlich funktionieren kann. Besonders interessiert mich, wie man die Bewohner eines Stadtteils dazu motiviert, sich für ihre Nachbarschaft stark zu machen. Als ich gehört habe, dass die Montag Stiftung Urbane Räume genau das in Krefeld angepackt hat, wollte ich mir natürlich selbst ein Bild davon machen. Seit meinem ersten Besuch im Viertel hat mich seine Mischung aus schick und schäbig, Grün und Großstadt nicht mehr losgelassen.

Während des Studiums habe ich gelernt, dass die Lebensqualität von Menschen stark mitbestimmt wird von ihrem alltäglichen Umfeld. Im besten Fall sind die Straßen, Wege und Plätze eines Viertels so gestaltet, dass sie die Passanten zum Verweilen einladen. Um auszuruhen, Bekanntschaften zu schließen oder Sport zu treiben. Auf das Samtweberviertel trifft dies leider nicht immer zu. Ein Beispiel dafür ist der wunderschöne Alexanderplatz, auf dem es aber keine Bänke gibt. Anschauen erlaubt, länger bleiben unerwünscht.

Ein anderer wichtiger Aspekt von Lebensqualität ist die Identifikation mit dem Raum, in dem man lebt. Identifikation hat viel mit Vertrautheit zu tun. Wenn man die Geschichte(n) eines Stadtteils kennt, hat jede Ecke etwas Bedeutungsvolles. Gerade im Samtweberviertel kommen regelmäßig neue Bewohner hinzu, die noch nicht viel über ihre zukünftige Heimat wissen. Genauso wichtig ist es für Alteingesessene, ihren Stadtteil hin und wieder mit neuen Augen zu sehen, um nicht beim “früher war alles besser“ festzustecken.

Diese Punkte haben einige Studenten des Fachbereichs Design der Hochschule Niederrhein im Rahmen des vom 19. bis 27. September stattfindenden “Viertelpuls-Festivals“ aufgegriffen. Ziel war es, aufzuzeigen und zu hinterfragen, wie der öffentliche Raum das Miteinander vor Ort fördern kann. Die Vorbereitung dazu habe ich über längere Zeit mitverfolgt und war sehr gespannt, wie die Ideen nun in der Wirklichkeit aussehen würden.

Schon am Abend vor dem offiziellen Start des Viertelpuls fallen mir auf den Boden gesprühte Wörter auf. Laut des kleinen Programmhefts handelt es sich dabei um Orientierungshilfen, die am nächsten Tag zu den Aktionsorten führen sollen. Am Morgen des 19. Septembers verpasse ich leider die feierliche Eröffnung des Festivals. Der Grund dafür: Befreundete Studenten meiner Universität und ich haben auch eine Aktion für das Festival geplant. Wir wollen den Platz vor der Bürgerinitiative Rund um St. Josef (kurz BI) für die jungen Krefelder zurückerobern. Da manche Anwohner sich regelmäßig über die spielenden Kinder beschwerten, wurde der früher mit einem Basketballfeld und einer kleinen Grünfläche ausgestattete Platz vor drei Jahren radikal umgestaltet. Der wegen des Spielfeldbodens früher “Rote Platz“ genannte Bereich ist nun grau gepflastert und sauber. Mit tatkräftiger Hilfe von Juan aus der BI haben wir auf einem Stück Kunstrasen einen Pavillon, Sitzgelegenheiten, Spiele und einen Tischkicker aufgebaut. Ein feines Detail war uns vorher leider nicht bewusst. Am selben Tag veranstaltet die Josefschule nebenan ein bombastisches Fest für ihre Schüler. Neben der gut besuchten Hüpfburg des Festes fühlen wir uns ziemlich mickrig. Als ein Verkäufer mit Losen unseren Pavillon passiert, kaufe ich ihm eines ab. Ich gewinne zwar keinen Preis, dafür aber eine Weisheit. Auf dem Papier steht “dabei sein ist alles“. Wir lachen und nehmen es als Motto für unsere Aktion.

Eine Weile später merken wir, dass die Kinder überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Fest und uns machen. Der Tischkicker wird heiß umkämpft, genauso wie unsere Kekse. Am meisten beeindruckt mich, was Juan den jungen Besuchern der BI beigebracht hat. Zwei Kinder sitzen mitten im bunten Treiben an unserem Tisch und spielen konzentriert Schach.

Der Höhepunkt unserer Aktion kommt ungeplant. Da niemand sich auf die mitgebrachten Kissen setzt, beginnen meine Freunde und ich eine Kissenschlacht. Eine Minute später sind wir von einer brüllenden Horde Kinder umringt, die mitmachen möchten. Als es anfängt wie aus Eimern zu regnen, ist das unser Signal zum Abbau.

Obwohl die Aktion schwer an unseren Kräften gezehrt hat, wollen wir vor der Heimfahrt nach Essen noch weitere Eindrücke vom Festival sammeln. Auch die BI hat einen künstlerischen Beitrag zum Viertelpuls-Festival geleistet. Vom Balkon des Gebäudes hängen von den Kindern gestaltete, phantasievolle “Luftakrobaten“ aus einfachen Materialien. Direkt neben der BI in der Lindenstraße findet sich der Programmpunkt “Platzlinde-Lindenplatz“. Vor dem ehemaligen Postgebäude haben die Studierenden Jule Derkx und Engin Yeter auf die niedrige Umzäunung um die Linde eine kreisrunde Sitzgelegenheit gebaut. Zusätzlich sind auf den Verkehrspollern rund um den Baum Holztafeln angebracht, die uns mit zahlreichen Details rund um diese Pflanzengattung versorgen. Wir nehmen Platz uns sind begeistert.

 

 

Alle Fotos: Amanda Bruchmann, Christine Linnartz

 

Nun begeben wir uns Richtung Lewerentzstraße. Das nächste Highlight erwartet uns am Corneliusplatz. Die Installation „Kopfzeilen“ von Lucas Schnurre und Janine Vohwinkel. Dabei handelt es sich um zwischen zwei Bäumen hängende Spruchbänder, die mit Aussagen der Viertelsbewohner gespickt sind. In diese Installation kann man richtig “eintauchen“. Mein Lieblingssatz stammt von einem gewissen Patrik. “Ich mag einfach meine Nachbarschaft, dieses Krefelder Pack.“

Richtig was zu sehen gibt es an der Stelle, wo die Lewerentzstraße in den Frankenring mündet. Dieses ehemals “tote Eck“ ist mit viel Liebe durch mehrere Interventionen zum Leben erweckt worden. Für mehr Aufenthaltsqualität haben hier Celina Stiehl, Weronika Schwaibiger und Sebastian Gilgen gesorgt. Anstatt von Parkplätzen findet man nun saftig-grünen Rollrasen und eine einladende Sitzgelegenheit. Für Kinder ist mit Kreidespray ein “Himmel und Hölle“-Spiel auf den Boden gemalt. Nicht zu übersehen ist auch die nun bunt getünchte Brandwand des letzten Hauses der Straße, die nun einen starken Kontrast zum wolkenbehangenen Himmel bildet. Unter dem Titel “Cosmos“ haben Judith Cleve, Sebastian Saffenreuter und Clemens Brück hier künstlerisch die Eigenheiten des Viertels verewigt. Ich verstehe zwar nicht viel von Kunst. Aber was ich da sehe, beeindruckt mich schwer. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo sonst Plakatwerbung hängt, sind die Passanten heute bei der Aktion “Raum fürs Viertel“ von Birgit Causin nach ihrer Meinung gefragt. Auf einer schwarz bemalten Fläche steht mehrmals der angefangene Satz “Hier wäre ich gerne, wenn…“. Schon viele Sätze wurden mithilfe von Kreide beendet. “…wenn es einen Spielplatz gäbe“, oder “…es immer so bunt wäre wie jetzt“ sind Aussagen, die den Handlungsbedarf im Viertel aufzeigen.

 

 

So, nun aber endlich Richtung Bahnhof. Was uns die gesamte Lewerentzstraße lang auffällt, sind die an Spinnennetze erinnernden Installationen von Kaja Schummers und Tatjana Wieprecht, die sich an Straßenschildern, Zäunen und Balkonen finden. Diese Aktion erzählt von einer ausgestorbenen Tierart, dem “Samtwebertierchen“, lateinisch “Adulatorius Texter“ genannt. Seitdem sich wieder etwas in der Alten Samtweberei tut, scheint auch die geheimnisvolle Art wieder zurück ins Viertel gefunden zu haben. Wir verfolgen die Spuren des Tierchens bis zu einer Metalltür in der Garnstraße. Wir linsen durch Löcher in der Tür und sind uns einig. Hier hat es sein neues Zuhause gefunden.

Kurz vor dem Ende der Lewerentzstraße, halten wir am leerstehenden Supermarkt, dessen Fassade in der jüngeren Vergangenheit von den Studenten der Hochschule immer wieder künstlerisch bespielt wurde. Hier treffen wir Elif Manaz, Anna Gräser und Clemens Brück, die zusammen mit Kindern dem Laden einen neuen Anstrich verpassen. Auch sie packen fluchtartig zusammen, da ein neuer Regenschauer einsetzt. Man sieht ihnen und den jungen Mitstreitern an, dass sie heute viel gelacht haben. Und nicht nur das Ladenlokal ist um ein paar bunte Akzente reicher. Die beim Verschönern abbekommenen Farbkleckse tragen alle Teilnehmer wie eine Auszeichnung.

Im Zug nach Hause lasse ich das Erlebte noch einmal an mir vorüberziehen. Nach all diesen Eindrücken kann ich zwar immer noch nicht behaupten, dass man mit Kunst und Design die Welt retten kann. Aber ein wenig angenehmer und schöner machen kann man sie durchaus.

 

 

Eine Woche später, in der ich einige spannende Programmpunkte verpasst habe, zieht es mich zurück ins Viertel. Beim Nachbarschaftsfest haben alle Besucher die Chance, beschwingt von Musik, leckerem Essen und ein paar krönenden Abschlussaktionen die ereignisreiche Woche zu verabschieden. In der Shedhalle der Samtweberei findet sich heute Raum zum Spielen, Entspannen und Kreativsein. Die zahlreichen Angebote machen deutlich, welch lebhafter Treffpunkt hier in Zukunft für den Stadtteil entstehen kann. Der Höhepunkt des Festes ist erreicht, als die Festteilnehmer zeitgleich knallgrüne Luftballons in den Himmel steigen lassen. Da fällt mir ein Satz ein, den ich einmal auf einem Vortrag gehört habe: “Wenn man etwas in der Welt verändern möchte, kann man nicht immer nur dafür kämpfen. Zu kämpfen allein macht keinen Spaß und ermüdet. Viel wichtiger ist es, sich über die kleinen Erfolge zu freuen und so immer wieder aufs Neue einen Grund zum Feiern zu haben.“ Und das, so scheint mir, können die Anwesenden ganz gut.

 

4 Responses to Ein Viertel pulsiert

  1. Roland Boosen sagt:

    Guten Morgen, Frau Bruchmann!

    Ich habe gerade Ihren Beitrag zum “Viertelpuls” gelesen. Der mit sehr schönen Bildern angereicherte Beitrag hat mir das Festival noch einmal mit Ihrer Nachbetrachtung in angenehme Erinnerung gerufen.

    Z. Zt. beginnen wir vom “BV Bahnbezirk” mit den Vorbereitungen zu dem nächsten Highlight im “Viertel”, dem “Kirschblütenfest 2016”. Wir hoffen, dass Sie auch dann “mit von der Partie” sein werden.

    Ich freue mich heute schon auf Ihre Nachbetrachtung.

    Roland Boosen (BV Bahnbezirk)

  2. Miriam Bender sagt:

    Hallo, Frau Bruchmann,

    als interessierte Nachbarin “vom anderen Ende der Stadt”, freue ich mich über diesen schönen Bericht. Allen Beteiligten wünsche ich weiterhin gute Ideen und viel Spaß bei der Weiterentwicklung! Es lohnt sich, denn wir leben HIER und verschönern UNSEREN Alltag!

    Vielen Dank – und Grüße von der Nordstadt in die Südstadt!

    Miriam Bender

  3. Danke Amanda für den tollen Bericht!

    Schön, dass du als Beobachterin gekommen und als Freundin des Viertels gegangen bist. Wobei – so ganz bist du ja noch gar nicht gegangen :-)

    Herzliche Grüße und bis bald.
    Michael (Otterbein)

  4. J.Monderkamp sagt:

    Hallo, Frau Bruchmann!
    Sehr, sehr schön Ihre Geschichte. War wegen kleinerer “Reparaturen” für einige Monate vom Gesundheitssystem verschluckt worden, und reibe mir jetzt ständig die Augen, weil ich nicht fassen kann, was sich in der relativ kurzen Zeit getan hat in der Südweststadt, vor allem vor dem Hintergrund, was seit meiner Jugendzeit nicht passiert ist. Ich werde Ihren Beitrag meinen Freunden Jutta und Jürgen Heckmanns, den Gründern der Bi Rund um St.Josef, die seit langem in Westfalen leben, zusenden, die sich sicher auch über Ihre Liebesgeschichte sehr freuen werden (nebst Augenreiben…).

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